„Schlag ins Gesicht der Opfer“

27.07.2019

Gysi-Rede in Leipzig am 9. Oktober 2019

Nachdem durch die Schergen der SED und ihres „Sicherheitsapparates“ am 7.10.1989 noch systematisch brutale Übergriffe auf oppositionelle Demonstranten zu verzeichnen waren, fragten wir in Leipzig uns bangen Herzens: Was würde denn nun der kommende Montag, der 9. Oktober, bringen, nachdem noch kurz zuvor ein Kampfgruppenkommandeur in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) kundgetan hatte, „mit der Waffe in der Hand“ das System erhalten zu wollen? Doch wir erlebten an diesem Tag den Sieg der einzigen erfolgreichen friedlichen Revolution in der Deutschen Geschichte.

Nun soll am diesem 30. Jahrestag der letzte Vorsitzende dieser SED, Gregor Gysi, im Rahmen der Aufführung der 9. Sinfonie Beethovens durch die Leipziger Philharmoniker in der Leipziger Peterskirche unter dem Titel „Festkonzert 30 Jahre Friedliche Revolution“ eine Rede halten. Dies ist ein unerhörter Vorgang, der zu Recht große Empörung auslöste. Einen von Bürgerrechtlern verfassten Protestaufruf, haben bisher über 800 Empörte unterschrieben.
In der Peterskirche waren wir am 9. Juli 1989, nachdem bewaffnete Bereitschaftspolizei unsere Demo von der Leipziger Abschlussveranstaltung des Kirchentages aus stoppte und die Stasi sogar eine Straßenbahn gekapert hatte, um das Plakat mit den chinesischen Schriftzeichen für Demokratie hineinzuzerren. An der Peterskirche kehrte ich am Morgen des 9. Oktober mit Kommilitonen wieder um, weil alle Vorlesungen am Theologischen Seminar Leipzig zugunsten einer eindrucksvollen und ernsten Fürbittandacht in der Reformierten Kirche abgesagt worden waren. Nach den Friedensgebeten in vier Leipziger Kirchen erlebten wir dann das Zurückweichen der Diktatur angesichts von über 70.000 Demonstranten. Die Revolution wurde gegen die SED und ihre Staats- und Machtvertreter, vor allem auch gegen ihre Rechtsverdreher durchgesetzt. Besonders die standen damals auf der anderen Seite.
Andreas Dohrn, heutiger Pfarrer der Peterskirche, der aus Schwaben stammt und in Hamburg Theologie studiert hat, laviert und erklärt dazu , dass sich die Philharmoniker nur nach den geltenden Richtlinien der Landeskirche für eine kulturelle Veranstaltung eingebucht hätten. Gysi sei keine „Persona non grata“, so Dohrn, für seine Stasimitarbeit, das Verstecken des Parteivermögens und die umfangreiche Vernichtung der SED-Akten sei er nie strafrechtlich verurteilt worden. Im Übrigen sei es ein Fehler, die Positionen der „Linken“ auszuschließen und weiter Öl ins Feuer zu gießen. Die Verletzungen und „Entwertung“ von „Lebensläufen“ in der DDR ermöglichten wohl keine vernünftige Debatte.
Lieber Kollege Dohrn: Wenn es etwas gibt, auf das wir im Osten alle Wert legen und mit Recht stolz sein können, so ist es dieser 9. Oktober 1989! Entwertet wird er, wenn dieser Tag der Selbstermächtigung und des Durchbruchs der Freiheit mit Krenz, Gysi und ihren Helfershelfern zur „Wende“ umgedeutet werden soll. Es ist diese geplante Veranstaltung ein „Schlag ins Gesicht der Opfer“, wie es die Liedermacherin Bettina Wegner nennt. Als Theologen wissen wir um die Eigenschaft und die Bedeutung von Symbolen. Ein Symbol ist mehr als ein Zeichen, es hat Teil an dem, was es bezeichnet. Wenn Gysi dieses Symbol der Rede am 9. Oktober zuteil wird, so gewinnt er nachträglich Anteil und Verdienst an der friedlichen Revolution, der ihm ganz und gar nicht zusteht. Soll er sprechen, wann und wo er will. Aber nicht an diesem Tag in einer Leipziger Kirche. Denn wie die Witwe Erich Loest hierzu sagte: „Gysis Auftritt in Leipzig müffelt zum Erbrechen.“

Pfarrer Andreas Bertram, Ev. Wochenzeitung „Die Kirche“ Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, 21.07.2019, S. 1

https://www.havemann-gesellschaft.de/beitraege/offener-brief-zum-geplanten-auftritt-von-gregor-gysi-am-30-jahrestag-der-friedlichen-revolution-in-einer-leipziger-kirche/

Andreas Bertram ist Pfarrer im Pfarrsprengel Markersdorf-Königshain, Kkrs. Schles. Oberlausitz. Er studierte Theologie am Theologischen Seminar in Leipzig. Ab 1987 gehörte er zur DDR-weiten Oppositionsgruppe „Arbeitskreis Solidarische Kirche“, Regionalgruppe Leipzig. Am 7. November 1989 war er Gründungsmitglied der SDP Leipzig in der Reformierten Kirche.