Zum 60. Jahrestag des Mauerbaus "...gegen Praxis und Prinzip der Abgrenzung"

13.08.2021

 

Sehr geehrte Frau Landtagsabgeordnete Schubert, sehr geehrter Herr Landrat Lange, sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Wieler, sehr geehrter Herr Baranowski [stellv. Bürgermeister Zgorzelec], ich begrüße ebenso herzlich die anwesenden Damen und Herren Stadträte, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste !


 

13. August 2021 - Gedenkfeier Görlitz - Reichertstraße 112 (Foto: Bürgerbüro)


Am 13. August 1986 band sich ein junger Mann nackt an ein Fensterkreuz in der Oderberger Straße in Prenzlauer Berg, genau gegenüber der Mauer. Vor sich hatte er ein Plakat, darauf stand: „25 Jahre sind genug. Jesus stirbt an der Mauer im Kopf.“

Ein Protest, heute würde man sagen eine Performance gegen die Mauer. Reinhard Lampe hatte Theologie studiert und war nun Vikar in der Berliner Bartholomäusgemeinde. Er hatte eine Prüfungspredigtarbeit zu schreiben, und schrieb sie über Lukas 16: Der reiche Mann und der arme Lazarus. Der Reiche hatte auf Erden alle materiellen Freuden, so erzählt Jesus in diesem Gleichnis, gibt dem armen Lazarus aber nichts ab. Am Ende ihres irdischen Lebens landet der Reiche in der Hölle und der Arme im Himmel. Als der leidende Reiche Vater Abraham um Hilfe bittet, sagt dieser: „Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein.“

Aber wie soll man über diesen Text in der DDR predigen, so fragt Lampe. Wer ist nun im Kontext der Mauer, hinter der Mauer, nun eigentlich der Arme und wer der Reiche? Gemeinhin wurde schon seit den 60er Jahren dieses Gleichnis oft im großen politischen Maßstab ausgelegt, auf den Nord-Süd-Konflikt, damals sagte man den Konflikt zwischen 1. und 3. Welt, bezogen. Da war man fein raus, besonders wenn man sich in Ost und West als progressiv und links verstand.

Aber der an dem Fensterkreuz nackt hängende Vikar kommt in seiner Exegese zu dem theologischen Schluss, dass in der DDR die Reichen die sind, die in den Westen reisen dürfen und die Armen die sind, denen diese Erfahrungen verwehrt sind und so ein Riss durch diese Gesellschaft geht, der auch die, die reisen durften als Reiche beschämt. Lampe schreibt:
Haben wir nicht in flotter Aneignung der Themen westlicher Alternativbewegungen etwas zu schnell vergessen wollen, dass wir uns im Ost-West-Verhältnis eigentlich immer noch selbst als arme „Lazarusse“ fühlen? Sind wir also nur deshalb eifrig bereit, im Nord-Süd-Konflikt bußfertig auf die Seite der Reichen‘ zu rutschen, um unsere eigenen Minderwertigkeits­komplexe zu überspielen?“

Bleiben oder gehen?“, das durchzieht seit den 50er Jahren den ethischen Diskurs in der DDR, besonders auch im kirchlichen Umfeld, denn die, die gingen, wurden oft ins moralische Unrecht gesetzt. Lampe macht mit seinen den biblischen Text durchdringenden Worten auf den permanenten Menschenrechtsverstoß der DDR aufmerksam, der durch keinen Nord-Süd-Konflikt und auch nicht durch historisierende Vorwürfe, dass an allem doch nur der 2. Weltkrieg schuld sei, an die Gehenden gerechtfertigt werden dürfe.

Gemeindeglieder der Bartholomäusgemeinde lesen diese Arbeit ihres verhafteten Vikars, gründen einen Gesprächskreis über all diese Abgrenzung und Rechtlosigkeit des Alltags und es entsteht ein großes und wichtiges Papier, das im Samisdat in der DDR landesweit verbreitet und in kleinen Gruppen diskutiert wird:

Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ – nicht nur die atomare Abschreckung mit Mittelstreckenraketen, nein, diese menschenrechtsverletzende Abgrenzung hier im Inneren, in unserem eigenen Land die dürfen wir nicht außer Acht lassen.

Der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck, die gelernte Erzieherin Ulrike Poppe und der Theologiedozent Wolfgang Ullmann, der Regisseur Konrad Weiß, Ludwig Mehlhorn, der dann später in der Begegnungsstätte in Kreisau arbeiten wird, waren u.a. Mitglieder dieses Kreises. Dieses Papier wurde in die Frühjahrssynode 1987 der Berlin-Brandenburger Kirche eingebracht und dort auch mit Hilfe von Spitzeln und eher Furchtsamen in Ausschüssen begraben. Und ausgerechnet hier in Görlitz dann - ein halbes Jahr später – auf der Synode des Bundes der Ev. Kirchen der DDR im Herbst des Jahres 1987, als dieses mutige Papier der Synodale, der Erfurter Propst Heino Falcke, einbrachte, geschah dasselbe.

Aber aus dieser Gruppe ging dann die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ hervor, die gemeinsam mit dem Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch, der Initiative und Menschenrechte und der SDP einen entscheidenden Anteil in der Friedlichen Revolution bekommen sollten.

Und das Datum dieser Friedlichen Revolution ist freilich der 9. Oktober in Leipzig, der den 9. November erst möglich machte. Diese friedliche Revolution war aber in der Kette dieser Ereignisse das Ergebnis des Protestes gegen die Menschenrechtsverstöße in der DDR.

In Europa war nach 1945 die SBZ und die DDR das einzige Land, das so viele ihrer Bürger verlor. Die Abstimmung mit den Füßen wird deshalb zurecht in der Fachliteratur auch als widerständiges bzw. oppositionelles Verhalten gewertet, die Flucht- und Ausreisebewegung machte den permanenten Rechtsbruch der SED-Diktatur deutlich, der durch keinen Hinweis auf den Weltfrieden oder die materiell Armen dieser Welt zu rechtfertigen war. Die Ausreise­zahlen schwollen auch immer im Zusammenhang mit politischer Repression besonders an: 1952 als der beschleunigte Aufbau zum Sozialismus verkündigt wurde, 1957 in einer Zeit stärkerer Verfolgung insbesondere christlicher Bürger und kirchlicher Einrichtungen auch im Zusammenhang mit der nunmehr brachial versuchten Durchsetzung der Jugendweihe und 1960 im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft.

Mindestens 140 Tote an der Berliner Mauer, ca. 327 an der innerdeutschen Grenze. Daran denken wir heute auch mit großer Trauer, aber auch mit Scham im Zusammenhang mit allzu langem Schweigen gegenüber einer Diktatur, die nicht delegitimiert zu werden brauchte, wenn sie doch nur durch Abriegelung, Abgrenzung und Gewalt bestehen konnte.

Im Nachdenken über den Zusammenhang von Abschreckung und Abgrenzung, von Armut und Reichtum erkennen die frommen politischen Christen dieses Textes von 1986 dann, dass die äußere Abgrenzung, die Mauer, nur eine Variante der inneren ist. Sie schreiben: Es geht um die Abgrenzung „des öffentlich-gesellschaftlichen Lebens gegen nicht genehmigte Informationen, Meinungen, künstlerische Äußerungen, Bestrebungen, Initiativen.“ – ja auch die Abgrenzung im eigenen Kopf, durch die Schere darin, wenn zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen so abgeteilt werden musste.

Die Kommunisten hatten eben nicht nur die sichtbare Mauer errichtet, sie trugen auch zu Abgrenzungen, zu Intoleranz und Provinzialität in den Köpfen bei. Natürlich hat der Osten Deutschlands deshalb einen wirtschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Aderlass erlebt, der bis heute seine Auswirkungen hat. Als sich schon allzu viele in Ost und West mit der Mauer abgefunden hatten, machte eine Hausarbeit und eine Performance, ein daraus entstehender Gesprächskreis und eine wiederum daraus entstehende wichtige Oppositions­gruppe der DDR auf diesen – wie Wolf Biermann in seiner Ballade vom Preußischen Ikarus sang – „Drahtverband“ aufmerksam, der „langsam einwächst in Brust und Bein, ins Hirn, in grauen Zelln.“

Wie viele Jahre, wie viele Begegnungen, wie viele Erfahrungen waren meiner Generation und der meiner Eltern gestohlen worden? Sie haben es oft beklagt. Erfahrung kommt ja daher, dass man auch Fahren darf. „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“ hatte der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter in seiner historischen Rede am 9. September 1948 angesichts der Berliner Blockade vor dem Reichstag ausgerufen. Es war das Bewusstsein, dass die Teilung dieser Stadt und dieses Landes die Teilung Europas bedeutet, dass die Völker, die Nationen und die Menschen durch diese Grenze getrennt und in sich feindlich gegenüberstehende Blöcke eingepfercht werden sollten und wurden. Der Kampf gegen Mauer, Stacheldraht und Diktatur war so immer auch ein europäischer Freiheitskampf, ein Ringen um Verständigung, ein Offenhalten der Köpfe und des Geistes für Internationalität und Toleranz, für kulturelle Offenheit. An diesen Dimensionen der Freiheit wollen wir unser Eintreten für ein gutes und friedliches Europa messen. Und was für ein tolles Ergebnis für unsere Kinder, dass sie Europa und die Welt so erfahren dürfen, im doppelten Wortsinn, dass sie nicht durch eine angeblich „wissenschaftliche Weltanschauung“ verbildet werden, weil sie sich eben die Welt selber anschauen können. Für diese Offenheit wollen wir weiter einstehen.

Ich darf hier für das „Bürgerbüro. Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur“ sprechen. Das Ringen um Freiheit, Reisefreiheit, Gedankenfreiheit, das Ringen um freie Kreativität bedeutete die Selbstermächtigung der Eingesperrten. Sie waren die Täter der Freiheit, sie sind keine passiven Opfer. Und doch haben nicht wenige von ihnen Nachteile der Art erlitten, dass manches nicht wieder gut zu machen ist. Aber wir sind verpflichtet, an der Anerkennung ihres Engagements zu arbeiten und dazu gehört auch der Versuch des Nachteilsausgleiches. Und da bleibt noch einiges zu tun, auch wenn schon – gerade in letzter Zeit – vom Gesetzgeber einiges verbessert wurde.

Wir bemühen uns als Opfer- und Aufarbeitungsinitiative so weiterhin, Verbesserungen insbesondere für die spezielle Opfergruppe der Verfolgten Schüler zu erreichen, ebenso wie die praktikablere Anerkennung von „Zersetzungsmaßnahmen“ und deren gesundheitlicher Folgeschäden. Auch die regelmäßige Anpassung und Aktualisierung der Opferrente gehört in diesen Katalog.

Wir sind uns bewusst, dass Recht und Gerechtigkeit nicht deckungsgleich sind und sein können. Und doch bedeutet der kritische Satz der Gründerin unseres Vereins, Bärbel Bohley, „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, eben diesen Impetus, dass wir die Täter der Freiheit und der Gerechtigkeit wertschätzen, indem wir dafür sorgen, dass sie nicht schlechter gestellt werden als die Täter der Mauer und der Diktatur. Herzlichen Dank!

Andreas Bertram, Stellvertretender Vorsitzender des Bürgerbüro e.V.