"Hoffnung ist die Haltung der Vernunft in der Krise". Gedenkveranstaltung am 9. November 2022

09.11.2022

 

Hildigund Neubert, Vorsitzende des Bürgerbüro e.V., beim Posaunenruf zum Mauerfall am 09. November 2022, der Gedenkveranstaltung zum 33. Jahrestag des Mauerfalls mit der Stiftung Berliner Mauer an der Hinterlandmauer Bernauer Straße/Ackerstraße.

Liebe Freundinnen und Freunde,

Es fühlte sich so gut an!, es fühlte sich an, als sei etwas geheilt, als ausgerechnet am Tag der Pogromnacht von 1938 einundfünfzig Jahre später die Mauer fiel. Das Wort vom Ende der Geschichte war die vornehme Formulierung des Überschwangs, dass eine schreckliche Geschichte ein happy end fand. Das feiern wir heute wieder. Und die Freude darüber kann uns niemand nehmen.

Als wir vor einem Jahr hier versammelt waren, glaubten wir uns noch im Frieden. Aber der Krieg glimmte schon. Mit dem Verrat an der belarussischen Opposition öffnete Lukaschenko Aufmarschflächen für Putin. Mit deutschem Gasgeld kaufte der schon iranische Drohnen. Der Aufzug an der ukrainischen Grenze war schon im Gange.

Es ist Krieg, heißer gewalttätiger Krieg, Menschen sterben, Städte brennen, Felder sind verwüstet, jeden Tag fürchten wir die Atomkatastrophe in Saporischja.

Und es ist Krise, die Weltklimakonferenz tagt bei schwindenden Erfolgsaussichten. Inzwischen brennt auch der Deutsche Wald, in Brandenburg gibt es eine Wüste und Fluten reißen Häuser nieder.

Was hat das mit dieser Gedenkstätte zu tun, mit der Erinnerung, die wir hier, Jahr für Jahr seit 33 Jahren pflegen?

Ich glaube, es ist das Stichwort Hoffnung.

Damals schien auch keine Hoffnung zu sein. Die Ausreiser und Flüchtenden hatten die Hoffnung aufgegeben, dass sich etwas verändern könnte. Stabilität schien noch das Beste, was realistisch erreichbar war. Aber es gibt keine Stabilität des Verbrechens. Die Mauer erodierte an den Zuständen, deren Symptom sie war.

Ich glaube, die Todsünde unserer Zeit ist die Hoffnungslosigkeit, für die es doch so viele, sehr vernünftige Gründe zu geben scheint.

Hoffnungslosigkeit ist verantwortungslos.

Hoffnungslosigkeit ist der Denkfehler derer, die sich „letzte Generation“ nennen. Das ist der Denkfehler derer, die unter dem Markenzeichen der Montagsdemonstrationen für ihr warmes Wohnzimmer, für „ihre Interessen first“, für ihre Friedhofsruhe demonstrieren.

Hoffnung ist wie die Blumen, die wir nachher in die Mauer stecken werden. Wie die Lieder, die der Volny-Chor singt und die Musik des Posaunenchors.

Dr. Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, Evelyn Zupke, Bundesopferbeauftragte, Marianne Birthler, ehem. Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Tom Sello, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Kulturstaatsministerin Claudia Roth und über 300 weitere Gäste, darunter der verbotene Volny-Chor aus Belarus und zahlreiche internationale Schulklassen, schmückten die graue Hinterlandmauer zum Posaunenklang des Advent-Zachäus-Chores anschließend mit farbigen Rosen.

Wer hofft, öffnet Räume der Fantasie für bisher nicht gedachte Lösungen. Wer hofft, der erhebt den Blick und gewinnt Perspektive.

Wer hofft, fürchtet nicht die Veränderung, sondern gestaltet sie.

Denn Hoffnung ist nicht passives Abwarten. Hoffnung späht nach Lösungsmöglichkeiten. Hoffnung weiß, dass auch kleine Schritte etwas bewirken.

Hoffnung macht stressresistent. Wo bleibt die Ansage, dass Freiheit etwas kostet? Nein, Freiheit kostet nicht Milliarden um Milliarden an Entlastungsleistungen, sondern sie wird unsere Anstrengung kosten. Die Glaubwürdigkeit der Politik leidet auch daran, dass man uns glauben machen will, mit genug Geld werde der Einzelne gar nichts merken von all den Veränderungen.

Hoffnung ist es, die die jungen Menschen in der Ukraine für ihr Land kämpfen lässt. Auch die Hoffnung darauf, dass es danach besser, gerechter wird als vor dem Krieg.

Im Wind der Hoffnung flattern die Kopftücher der iranischen Frauen hoch über den Köpfen.

Hoffnung nimmt die zukunftsweisenden Momente auf: die Solidarität der Europäer, den Run auf Solarenergie, die wachsende Einsicht der Menschen. Ausdruck der Hoffnung ist es, wenn so viele junge Menschen Jahr für Jahr hierher kommen, um aus der Geschichte die guten Gründe für die Zukunft zu erschließen.

Es war die Kraft der Hoffnung, die Diktatur besiegte und den Beton der Mauer zerbröselte. Wenn es nicht so wäre, stünden wir nicht hier.

Hoffnung ist die Haltung der Vernunft in der Krise.

Schöpfen wir also Hoffnung aus dieser Zusammenkunft und aus all den Quellen, die der Glaube und die Liebe uns erschließen.

Hildigund Neubert

Vors. Bürgerbüro e.V.

Verein zur Aufarbeitung der SED-Diktatur