Die Mauer und die Klagemauer - Posaunenruf am 09.11.2023 in Berlin

09.11.2023

Hildigund Neubert

Liebe Freiheitsfreunde,

gestatten Sie, dass ich Sie alle, die Sie ja schon begrüßt wurden, unter diesem Ehrentitel zusammenfasse!

Schon vom 9. November 1989 an steht dieser Tag in der Spannung zwischen dem Jubel über den Mauerfall und der Trauer über das Novemberpogrom von 1938. In diesem Jahr kämpfen in mir Verzweiflung und Hoffnung mehr denn je.

Mauern tragen in sich die Absichten der Erbauer und die Ereignisse, die an ihnen stattfinden.

Da gibt es Erfahrungen von Trennung und Verbindung, von Sicherheit und Tod, von Geborgenheit und Ausgrenzung, von Undurchdringlichkeit und offenen Türen. Mauern sind Menschenwerk, der Versuch von Menschen ihr Werk in Stein zu setzen, ihm Dauer zu verleihen. Das wird immer vergeblich sein.

Diese Mauer hier steht heute gegen die Absicht ihrer Erbauer: Sie sperrt niemanden mehr ein. An ihr wird nicht mehr gemordet. Sie ist zu einem Symbol dafür geworden, dass scheinbar Unveränderliches umstürzen und sich grundlegend wandeln kann. Hier wird heute das Leben gefeiert und das Recht und die Freiheit. Menschen vieler Nationen verbinden sich heute hier.

 

Kronprinzessin Mette-Marit und Kronprinz Haakon aus Norwegen besuchten die Gedenkveranstaltung am 9. November. In ihrer Ansprache vor den 500 Gästen sagte Mette-Marit von Norwegen, Mauern seien nicht nur aus Stein oder Beton gebaut, sie können auch aus Intoleranz, Lügen und Feindseligkeit errichtet werden. "Wir sind erschüttert über das menschliche Leid in der Ukraine und im Nahen Osten. Aber wir dürfen die Hoffnung auf die Kraft des menschlichen Willens, Konflikte zu lösen und Barrieren niederzureißen, nicht aufgeben." 

 

Deswegen soll mir diese Stätte heute eine Stätte der Hoffnung sein. 

Hoffnung, wo so vieles eher zum Verzweifeln ist.

Terror und das schreckliche Pogrom in Israel, das palästinensische Volk unter der Terrorherrschaft der Hamas, die Vertreibung der Armenier aus Aserbaidschan, noch immer der unverminderte Angriffskrieg gegen die Ukraine, Terror in Mali, in Nigeria, was wird aus Taiwan? Dabei hätte die Menschheit andere Aufgaben, um diese Erde zu bewahren und für alle Menschen lebenswert zu erhalten.

Und auch in unserem Land sehen wir die Freiheitsverächter auf dem Vormarsch. Reiner Kunze hat über sie geschrieben:

erst fassen sie fuß,

dann

nach den köpfen

(Hindert sie die schwelle,

kehren sie

die reihenfolge um)

Können wir die Herzen und Sinne für Freiheit und Demokratie, für Leben und Liebe offen halten? Oder wieder gewinnen?

Ich denke an eine andere Mauer.

Die Jerusalemer Klagemauer - ha-Kotel ha-Maʿaravī – sie ist Teil des jüdischen Tempels. Sie ist der wichtigste Ort des Gebets für Juden. Seit dreitausend Jahren wird da gebetet: „HERR höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen.“ (Dan. 9,17)

Gerade jetzt kommen besonders viele Menschen dorthin. Ja ganz sicher sind es viele Klagen, die an diese Mauer getragen werden. Und doch ist schon der Gang an die Mauer ein Ausdruck der Hoffnung, dass es Veränderung zum Guten geben kann.

Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. (Ps 13,6)

Dass ihr Gebet nicht vergessen werde, stecken viele der Beter Zettel mit ihrem Anliegen in die Ritzen und Fugen der alten Tempelwand.

Wenn wir nachher die Blumen in die Ritzen dieser Mauer stecken, dann denken Sie an die Gebetszettel in der Klagemauer. Geben Sie mit jeder Blume einen guten Wunsch für einen Menschen in Israel und Palästina, eine Sehnsucht nach Frieden, und, wenn Sie können und mögen, ein Gebet in diese Mauer.

Das wird unsere Welt verändern.

Hildigund Neubert, Berlin, 9. November 2023

 

 

500 Gäste schmückten die graue Hinterlandmauer an der Bernauer Straße/Ackerstraße mit bunten Rosen.