Verehrter Herr Bundespräsident, liebe Freunde und Mitfeiernde,
haben Sie es erkannt? Eben gerade haben die Bläser ein Spiritual gespielt: Joshua fit the battle of Jericho.
Viele Posaunenchöre seit vielen Jahren spielen es gern und mit Emphase. Es ist klar warum: In der Geschichte im Josuabuch der Bibel erweist sich der Klang der Posaunen als ungeheuer mächtig: Die Befestigungsmauern einer ganzen Stadt stürzen ein!
Der Posaunenchor sieht diesmal anders aus, jünger und älter. Er hört sich vielleicht auch anders an, als Sie es hier zum 9. November gewöhnt sind. Es ist auch ein anderer Chor: mein Posaunenchor aus meinem Heimatdorf Limlingerode. Und wir grüßen Sie mit gerade diesem Lied. Denn unser Dorf war in der Mauerzeit eingeschlossen im Sperrgebiet an der DDR-Grenze zu Niedersachsen. Das Mauerregime der SED betraf die Menschen jeden Tag und jede Nacht. Schlagbäume, Passierscheinwesen, Besuchsverbote, Überwachung und vor allem die ständige Deportationsdrohung:
wer nicht spurt, wird weggeschafft wie Ungeziefer.
Menschen, die solche Unterdrückung erlebt haben, verstehen einander wohl über Raum und Zeit hinweg.
Denn das Lied über die Posaunen von Jericho haben versklavte Menschen in den amerikanischen Südstaaten gedichtet. Es besingt die Hoffnung, gemeinsam durch Mittel, die niemand erwartet und die kein Mensch vorhersehen kann – eben mit Gottes Hilfe – stark zu werden, freizukommen und der Freude entgegen zu gehen.
Und noch weiter zurück geschaut wissen wir, dass die Erzählung von den Jericho-Posaunen in die Bibel geschrieben wurde, als die Israeliten in babylonischer Gefangenschaft saßen, voller Sehnsucht nach Kraft und Freiheit. Sie ist kein historischer Sachbericht von der überraschenden Eroberung einer Stadt. Die Erzählung sollte Identität stiften und helfen, die schwere Situation des Zwangsexils anzunehmen. Ich sehe mit bitterer Trauer wie einige Politiker im heutigen Israel diese Symbolgeschichten in die Wirklichkeit zwingen wollen.
Ich sehe gerade an diesem doppelt bedeutsamen Gedenktag auch ihre Furcht und Abwehr vor denen, die ihrem Land das Existenzrecht bestreiten und sie angreifen. Da braucht es Kraft und Überlegenheit.
Warum also spielen wir Ihnen genau dieses Lied, erinnern wir an diese Geschichte?
Ich bin mir sicher, es gibt eine Art von Kraft, die zur Macht wird, gerade weil sie nicht von Gewalt, Zwang, Waffen und Soldaten abhängt.
Wir haben das 1989 erlebt.
Das eine, was in dem Lied besungen wird, ist die Gemeinsamkeit:
Das ganze Volk zog um Jerichos Mauern, wie die Leipziger Demonstranten am 9. Oktober 1989 um den Stadtring gezogen sind. Nach jahrzehntelangem Ringen in der Minderheit der kleinen Oppositionsgruppen gab es plötzlich eine große Gemeinsamkeit, -zigtausende bei Demonstrationen, ein neues Vertrauen, sogar Sicherheitspartnerschaften. Von den Wellen dieser Sympathie zerbröselte der Zusammenhalt der Diktatur-Funktionäre.
Und das zweite ist das überraschende Mittel der Musik, des Posaunenschalls, das die Wende zum Erfolg bringt.
Der Sicherheitschef der DDR war genauso überrascht. Verzweifelt sagte er zu seinen schwer bewaffneten Offizieren: „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten!“.
Aber genau diese waren es, die Mauer stürzten.
Diese Macht des Geistigen, die Bibel nennt sie die Macht der Liebe, ist vielleicht, so hoffe ich es, auch die Chance der Ukraine gegenüber dem übermächtigen Nachbarn.
Der Westen, die EU, die NATO könnten mit der Ukraine die Gemeinschaft von Recht und Freiheit teilen und neue Kraftquellen erschließen. Ich schäme mich der Zögerlichkeit und Knauserigkeit unseres starken Landes.
Bei den Kriegstreibern und Angreifern in Russland gibt es keine konstruktive, aufbauende Kraft, ihre Verbündeten sind die Völkerschinder der Welt. Ich hoffe, dass nicht noch mehr Menschen und Länder unter die Knute der Diktatoren fallen. Aber ich erschrecke vor der Logik des Krieges, die derzeit wohl der einzige Schutz davor ist.
Das scheint alles außerhalb meiner Reichweite zu geschehen.
Es gibt die Redewendung, man sei „zur Untätigkeit verdammt“. Ja, Passivität macht machtlos, stürzt uns in Verzweiflung.
Aber jeder kann in jeder Lage etwas tun: mit anderen sprechen, anderen ein kleines Zeichen senden, vielleicht einer Hilfsorganisation spenden, Briefe schreiben, demonstrieren, beten … es gibt viele Möglichkeiten, selbst zu handeln mit posaunenstarker Kraft, aus voller Lunge.
Dann spüren wir wieder, dass Geschichte offen ist, auch für solche wunderbaren Wendungen wie 1989.
Hildigund Neubert, Vors. Bürgerbüro e.V.